Die gefälschten Hitler-Tagebücher: Ein dunkles Kapitel in der Geschichte des Journalismus
Einer der größten journalistischen Betrügereien des 20. Jahrhunderts
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Sensationslust, Fake News und faktenverdrehende Geschichten sind in der heutigen digitalen Landschaft eine kulturelle Norm. Internet-Hacker, Tinder-Schwindler und Telefonbetrüger sind weit verbreitet, und wer hat sich nicht schon einmal einer Photoshop-Bearbeitung hier oder eines hübschen Filters dort schuldig gemacht, um eine schmeichelhaftere Version der Wahrheit darzustellen? Täuschung ist allgegenwärtig, und viele Medien haben einen Anreiz, Clickbait-Storys zu verfassen, um unerbittlich nach Ansichten, Klicks, Downloads, Abonnements und letztendlich nach Werbeeinnahmen zu streben. Im Gegensatz dazu gab es in der vordigitalen Ära die Erwartung – wenn nicht sogar ein heiliges Vertrauen , dass Medienquellen die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit liefern würden. Doch selbst in diesen Zeiten traten gelegentlich Risse auf, und ein solcher Riss wurde zu einem globalen Erdbeben.
Was als bahnbrechende Exklusivmeldung für ein deutsches Nachrichtenmagazin begann, wurde zu einem der berüchtigtsten journalistischen Skandale der Welt: Die Hitler-Tagebücher. Wir untersuchen das Wie, Warum und Wer dieses außergewöhnlichen Betrugs. Klicken Sie sich durch die Galerie, um die Wahrheit hinter einem der größten Medienbetrügereien der Geschichte aufzudecken.
Stern-Magazin
Am 25. April 1983 gab der Stern, Europas damals größtes Nachrichtenmagazin, eine Pressekonferenz für eine monumentale Ankündigung. Mehrere Fernsehsender und über 200 JournalistInnen versammelten sich im Verlagshaus Gruner & Jahr in Hamburg.
Zwölf schwarze Notizbücher
Die Chefredakteure kamen mit 12 schwarzen Notizbüchern an, die angeblich persönliche Schriften Adolf Hitlers enthielten. Bilder des Stern-Reporters Gerd Heidemann – der behauptete, in den Besitz der Manuskripte gekommen zu sein –, der mit den Tagebüchern posiert, verbreiteten sich schnell weltweit, begleitet von Berichten über die unglaubliche Entdeckung.
Gerd Heidemann
Heidemann galt als einer der besten investigativen Reporter des Stern, der dafür bekannt war, nur selten in der Redaktion zu erscheinen und häufig wochenlang zu verschwinden, ohne jemanden über seinen Verbleib zu informieren. Er präsentierte die Tagebücher und behauptete, sie für eine beträchtliche Summe von ihrem angeblichen "Finder", Konrad Kujau, erworben zu haben.
Wie die Tagebücher weltweit bekannt wurden
Heidemann vermittelte den Deal für das Magazin und sicherte die Rechte an den Tagebüchern für 9,3 Millionen Deutsche Mark. Der Stern verkaufte anschließend die Veröffentlichungsrechte an mehrere Medienunternehmen weiter.
Die Sunday Times
Zu den Abnehmern gehörte auch die Sunday Times, die den Historiker Hugh Trevor-Roper, einen ihrer unabhängigen Direktoren, mit der Überprüfung der Tagebücher beauftragte. Trevor-Roper untersuchte die Dokumente und hielt sie zunächst für authentisch, was dem Betrug zusätzliche Glaubwürdigkeit verlieh.
Einblicke in Hitlers Gedanken und Beweggründe
Die begeisterten Stern-Mitarbeiter behaupteten, dass Hitlers Biografie "Mein Kampf" und die Geschichte des Dritten Reiches aufgrund der Enthüllungen in den Tagebüchern, die, wie sie ankündigten, einen noch nie dagewesenen Einblick in Hitlers persönliche Gedanken und Beweggründe bieten, grundlegend umgeschrieben werden müssten.
"Hitlers Tagebücher entdeckt!"
Drei Tage später veröffentlichte der Stern eine Sonderausgabe mit Auszügen aus den Tagebüchern. Auf dem Titelblatt prangte die Schlagzeile: "Hitlers Tagebücher entdeckt". Die Auflage des Magazins stieg um 400.000 Exemplare von den üblichen 1,8 Millionen, und die Sonderausgabe wurde für einen Aufpreis von 50 Pfennig verkauft.
Konrad Kujau
Die Tagebücher wurden von Konrad Kujau "entdeckt", einem Kleinkriminellen, der auch ein geschickter Kunstfälscher war und sich als Antiquitätensammler ausgab. Kujau behauptete, die Tagebücher seien 1945 aus dem Wrack eines abgestürzten Flugzeugs geborgen worden und hätten jahrelang in einer Scheune in Ostdeutschland versteckt gelegen.
Hitler-Imitation
Mitte bis Ende der 1970er Jahre begann Konrad Kujau mit der Anfertigung von Gemälden, die er fälschlicherweise Adolf Hitler zuschrieb, der sich in seiner Jugend mit der Kunst beschäftigt hatte. Nachdem Kujau einen Markt für diese Fälschungen gefunden hatte, ging er auf die Interessen der Käufer ein und produzierte Werke mit Karikaturen, Akten und Actionszenen – Themen, die Hitler nie gemalt hat und wahrscheinlich auch nicht hätte malen wollen.
Mein Kampf
Von seinem Erfolg beflügelt, wuchs Kujaus Ehrgeiz. Er kopierte den Text der beiden Bände von "Mein Kampf" von Hand, obwohl die Originale auf einer Schreibmaschine fertiggestellt worden waren. Er fabrizierte sogar eine Einleitung zu einem dritten Band des Werks, der von einem seiner Stammkunden eifrig gekauft wurde.
Hungrig nach mehr
Kujau fälschte auch eine Reihe von Kriegsgedichten, die so dilettantisch waren, dass er später zugab: "Ein vierzehnjähriger Sammler hätte sie als Fälschung erkannt." Von Gier und Ehrgeiz zerfressen, eskalierte Kujau weiter, kaufte in Ost-Berlin billige Notizbücher und verfasste das, was schließlich eine 60-bändige Sammlung von "Adolf Hitlers Tagebüchern" werden sollte.
Fritz Stiefel
Einer der Stammkunden von Konrad Kujau war der Geschäftsmann Fritz Stiefel, ein Sammler von NS-Artefakten, der das angebliche Tagebuch für echt hielt. Stiefel lieh sich das Buch aus und übergab es schließlich an den Stern-Reporter Gerd Heidemann. Auch Heidemann, selbst ein leidenschaftlicher Sammler von NS-Memorabilien, war von der Authentizität des Tagebuchs überzeugt. Seine Faszination für die NS-Zeit grenzte an Besessenheit, was ihn besonders empfänglich für Kujaus Täuschung machte.
Eine überzeugende Hintergrundgeschichte?
Heidemann ging der Vermutung nach, dass die Tagebücher Adolf Hitlers an der Absturzstelle eines NS-Flugzeugs in Ostdeutschland gefunden wurden. Nachdem er die Absturzstelle besucht hatte, war er überzeugt, dass die Bücher tatsächlich dort gefunden worden waren.
Verblendung
Er teilte seine Entdeckung einigen Kollegen im Stern mit und wandte sich an Kujau, der schnell erkannte, dass er den Reporter erfolgreich an der Angel hatte.
Tagebuch der Tagebücher
An dem Tag, an dem die Tagebücher beim Stern eintrafen, notierte Felix Schmidt, einer der drei damaligen Chefredakteure des Magazins, in einem Beitrag mit dem Titel "Tagebuch der Tagebücher", dass er ursprünglich geplant hatte, Heidemann mit der Berichterstattung über das versuchte Papst-Attentat in der Türkei zu beauftragen.
Angeblich Hitlers
Doch bevor er Heidemann ausfindig machen konnte, wurde Schmidt zusammen mit seinen Redaktionskollegen Rolf Gillhausen und Peter Koch ins Verlagsbüro gerufen. Dort lag ein halbes Dutzend Notizbücher auf dem Tisch.
Authentizität bestätigt
Die ersten drei Tagebücher wurden umgehend untersucht und von renommierten Historikern, Experten des Bundesarchivs und des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz auf ihre Echtheit hin überprüft.
Ungeschickte Fehler
Unglaublicherweise bemerkte niemand, dass Kujau, verwirrt durch die alte deutsche gotische Schrift, alle Bücher fälschlicherweise mit "FH" statt mit "AH" begonnen hatte. Auch nicht, dass einige der Vergleichsschriftproben, die den Experten vorgelegt wurden, ebenfalls aus der Feder von Kujau stammten.
Ehemalige deutsche Offiziere warnen vor der Legitimität
Ehemalige deutsche Offiziere, die als Helfer Hitlers gedient hatten, sagten aus, dass er nie ein Tagebuch geführt habe, und vor allem gegen Ende des Krieges hätte er keine Zeit dafür gehabt. Außerdem hatte Hitler nach dem Attentat von 1944 die Fähigkeit seiner Schreibhand verloren, was die Anfertigung solcher Tagebücher höchst unwahrscheinlich machte.
Auszug aus den Tagebüchern
Was in den Tagebüchern niedergeschrieben wurde, war größtenteils recht trostlos und voller alltäglicher Beobachtungen. So heißt es zum Beispiel, dass Hitlers Lebensgefährtin Eva Braun ihn aufforderte, einen Arzt aufzusuchen, um sich untersuchen zu lassen. "Auf Evas Bitte hin habe ich mich von meinen Ärzten gründlich untersuchen lassen. Die neuen Pillen verursachen starke Blähungen und, wie Eva sagte, Mundgeruch."
Sir Winston Churchill
In einem anderen Eintrag des Tagebuchs wird der britische Premierminister erwähnt. "Die Engländer machen mich verrückt – soll ich sie [aus Dünkirchen] entkommen lassen oder nicht? Wie reagiert dieser Churchill?"
Fake News?
Mit der zunehmenden Verbreitung dieser Tagebücher wuchsen auch die Zweifel und die Skepsis. Presse, Historiker und Handschriftenexperten stellten die Echtheit der Tagebücher in Frage.
Bundeskriminalamt
Als das Bundeskriminalamt die Tagebücher schließlich fachmännisch untersuchte, waren die Beweise, dass es sich um Fälschungen handelte, eindeutig und unbestreitbar. Das für die Notizbücher verwendete Papier stammte nicht aus der Zeit des Dritten Reiches, sondern war eine in den 1950er-Jahren entwickelte Papiersorte, die eine Echtheit der Tagebücher unmöglich machte.
Forensische Prüfung
Die kriminaltechnische Untersuchung ergab, dass die Tinte modern war und nicht aus der Kriegszeit stammte. Eine Chloridverdunstungsanalyse bestätigte, dass die Tagebücher in den letzten zwei Jahren geschrieben wurden. Später gestand Kujau, dass er die Seiten mit Tee beträufelt und die Tagebücher gegen seinen Schreibtisch geschlagen hatte, um ihnen ein gealtertes Aussehen zu verleihen. Er gab auch zu, dass er einen Monat lang geübt hatte, in der alten deutschen gotischen Schrift zu schreiben, die von Hitler verwendet wurde.
Gerd Heidemann und Konrad Kujau vor Gericht
Die Staatsanwaltschaft leitete eine Untersuchung ein. Gerd Heidemann und Konrad Kujau landeten vor Gericht und wurden beide zu Haftstrafen verurteilt.
Das Schicksal von Konrad Kujau
Das Gericht verurteilte den bekennenden Tagebuchfälscher Konrad Kujau wegen Betrugs und Fälschung zu vier Jahren und sechs Monaten Gefängnis. Als er nach drei Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, wurde Kujau zu einer kleinen Berühmtheit und trat im Fernsehen als "Fälschungsexperte" auf. Kujau starb im Jahr 2000 an Krebs.
Was wurde aus Gerd Heidemann?
Der ehemalige Stern-Reporter Gerd Heidemann erhielt vier Jahre und acht Monate wegen Betrugs bei der Beschaffung der 60 Bände für das Magazin. Zudem hatte er einen Teil des Geldes, das Kujau ihm gezahlt hatte, gestohlen und umgerechnet 500.000 Euro aus dem Betrag behalten, den der Stern für die Tagebücher bezahlt hatte.
Reichtum in Lumpen
Heidemann lebte in den Jahren nach dem Skandal ein verschwenderisches Leben: Er mietete teure Wohnungen, kaufte neue Autos und Schmuck und erwarb weitere NS-Memorabilien, von denen viele ebenfalls Fälschungen von Kujau waren. Doch 2008 fand sich Heidemann in einer völlig anderen Lage wieder. Er lebte in Hamburg in Armut, bezog nur noch eine monatliche Sozialhilfe von 350 Euro und soll Schulden von rund 700.000 Euro gehabt haben.
Antrag auf Reposession
Im Jahr 2013 begann Heidemann, sich für die Rückgabe der Manuskripte einzusetzen. Er argumentierte, dass der Stern-Verlag Gruner & Jahr vertraglich zur Rückgabe verpflichtet sei.
Öffentlicher Zugang zu den Tagebüchern
Vierzehn Jahre nach dem Skandal hat der NDR alle Bände der gefälschten Tagebücher in einer wissenschaftlich kommentierten Online-Ausgabe veröffentlicht, die im Februar 2023 erschien. Obwohl die Tagebücher nicht von Hitler verfasst wurden, sind sie als einer der größten journalistischen Betrügereien des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingegangen.
Quellen: (DW) (The New Yorker) (LA Times) (Britannica) (Wikipedia) (New York Times) (Independent)
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